Café Brinker, Robert-Brauner-Platz, Herner City
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zum TerminVortrag von Heinrich Peter Drenseck (Erster Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt, Unterbezirk Ruhr-Mitte) auf der Sozialkonferenz der Bochumer SPD am 29.5.2009
Das Thema Kinderarmut beschäftigt die Arbeiterwohlfahrt seit ihrer Gründung 1919 und ist bis heute ihr originäres kinder- und jugendpolitisches Thema.
1997 hat die AWO das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) mit der Durchführung der ersten und bisher einzigen Längsschnittstudie zu diesem Thema beauftragt. Die Ergebnisse belegen, dass Armut immer zuerst Einkommensarmut ist. Besonders lange andauernde Einkommensarmut führt zu massiven negativen Auswirkungen auf die Lebenslagen von Kindern.
Nach amtlicher Statistik lebten Ende 2003 mehr als eine Millionen (= 7,2 %) Kinder und Jugendliche von Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Armutsquote ist jedoch deutlich höher als die Sozialhilfequote. Je nach Armutsdefinition leben zwischen 13 und 19 % in relativer Armut, das heißt, sie und ihre Familien müssen mit weniger als der Hälfte des durchschnittlichen Einkommens zurechtkommen.
Bei den Sieben- bis Zehnjährigen der untersuchungsrelevanten Altersgruppe leben insbesondere Kinder aus Ein-Eltern-Familien (nämlich 37%), Kinder aus Familien mit vier und mehr Kindern (nämlich 56%) und Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund (50%) unterhalb der Armutsgrenze.
Zentrale Ursachen sind Langzeit-Erwerbslosigkeit, Niedrigeinkommen (working poor), besonders wenn nur ein Elternteil einer Arbeit nachgehen kann, und der Hartz IV-Bezug, aber auch soziale Probleme, wie Überschuldung, Trennung/Scheidung, Behinderung/Krankheit sowie die Bündelung von Problemlagen.
Im AWO-Sozialbericht 2000 „Gute Kindheit – schlechte Kindheit“ hieß es, in jedem 7. Kinderzimmer spielt die Armut mit; mittlerweile ist es jedes 6.
Sicher wollen alle Eltern das „Beste“ für ihr Kind. Die Entscheidungsspielräume und Möglichkeiten, dieses Beste zu realisieren, sind jedoch hochgradig unterschiedlich.
Im materiellen Bereich ist bei den Zehnjährigen Ausdruck der Mangellage, dass sie kein eigenes Kinderzimmer und keinen eigenen Arbeitsplatz haben sowie Einschränkungen bei der Kleidung und beim Spielzeug hinnehmen müssen.
Die zweitgrößten Differenzen sind im kulturellen Bereich, besonders in der Schule, festzustellen: Schon in der Grundschulzeit haben arme Kinder deutlich schlechtere Noten und auch häufiger die Erfahrung einer Klassenwiederholung gemacht. Die für ihre Zukunftsperspektive prägende Übergangsentscheidung in die Sekundarstufe I fällt entsprechend ungünstiger aus: Kinder mit Armutserfahrung schaffen auch bei gleichen oder besseren Leistungen den Übergang aufs Gymnasium weitaus seltener als Kinder ohne Armutserfahrung.
Im sozialen Bereich können arme Kinder seltener andere mit nach Hause bringen und werden seltener eingeladen, können weniger ihren Geburtstag feiern, haben seltener Gelegenheit, über Vereins- und Kursaktivitäten soziale Kontakte zu schließen und zu pflegen, werden seltener gelobt und gefördert.
Im gesundheitlichen Bereich weisen arme Kinder ein höheres Ausmaß an „Risikoverhalten“ auf: Sie haben häufiger einen bedenklichen Medienkonsum, sie nehmen die Mahlzeiten unregelmäßiger ein, haben mehr Gewichtsprobleme und frühzeitiger Suchtmittelkontakte (z. B. Zigaretten und Alkohol).
Die Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund, zwischen Mädchen und Jungen und zwischen verschiedenen Familienformen sind weniger bedeutsam, wenn die materielle Lage der Familie berücksichtigt wird.
Je nachdem, in welches soziale Milieu ein Kind hineingeboren wird, genießt es von Geburt an Privilegien oder erleidet Benachteiligungen: Lebenschancen werden sozial vererbt. Die Chancen zum Abitur oder Hochschulabschluss zu gelangen, hängen heute sogar wieder stärker als in der Vergangenheit von der sozialen Herkunft ab,
In Deutschland wird zu wenig dafür getan, die Benachteiligungen von Kindern auszugleichen, denen keine behütete und geförderte Kindheit zuteil wird. Es gilt, jene Familien zu unterstützen, die nicht in der Lage sind, die gesellschaftliche Norm der guten Kindheit zu erfüllen. Wo weder die finanziellen Mittel noch der kulturelle Unterbau vorhanden sind, reicht der gute Wille (oder der öffentliche Druck), den eigenen Kindern einen guten Platz im Wettbewerb um die besten Chancen zu verschaffen, in der Regel nicht aus.
In Deutschland wird die öffentliche Verantwortung für arme Kinder bisher zu wenig diskutiert. Es fehlen ein Gesamtkonzept und gemeinsame Strategien für eine kindbezogene Armutsprävention und für die Stärkung von Kinderrechten.
Folgende Ansätze müssen unter Aufgabe institutioneller Grenzen von Sozial- und Bildungspolitik, Jugendhilfe und Schule miteinander verknüpft werden:
Eine der besten Optionen zur Armutsprävention ist, den Müttern eine Erwerbsmöglichkeit zu schaffen. Öffentlich angebotene bezahlbare, besser kostenlose, Kinderbetreuung führt zu einer höheren Erwerbsbeteiligung von Müttern und zu deutlich weniger Kinderarmut. Die OECD hat 2005 in Belgien, den Niederlanden und Frankreich bei den unter Dreijährigen eine Betreuungsquote von 34,2 % und eine Erwerbsquote der Mütter von 63 % festgestellt. In Deutschland hatten wir bei einer Betreuung von 9 % eine Erwerbsquote von 36,1 %.
Aber – nicht nur arme Familien haben besondere Unterstützungsbedarfe, auch viele andere. Und: neuere Untersuchungen zeigen, dass die räumliche Konzentration („Segregation“) von Menschen in ähnlichen Lebenslagen solche individuellen Benachteiligungen (beziehungsweise Privilegierungen) verstärkt.
Die Unterschiede zwischen den Städten und innerhalb der Städte sind gewaltig:
Mehr als 40% der Gladbecker Familien leben in Armut oder in armutsnahen Verhältnissen, in Mülheim sind es nur 21 %. In Mülheim hat in jeder vierten Familie mindestens ein Elternteil einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss, in Gladbeck nur in jeder sechsten. In Mülheim-Styrum, Altstadt I und II wohnen 56 % aller Nichtdeutschen und knapp ein Drittel aller Deutschen (darunter ebenfalls viele mit Migrationshintergrund).
Ein kommunales Gesamtkonzept für eine kindbezogene Armutsprävention mündet also in eine sozialräumliche und zielgruppenorientierte kommunale Familienpolitik.
Ohne ein leistungsfähigeres und gerechteres Bildungswesen ist nicht nur eine nachhaltige Armutsprävention unmöglich, sondern die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und der Bestand unseres sozialen Rechtsstaates gefährdet.
Der AWO-Sozialbericht 2006 trägt den Titel: „Chancengerechtigkeit durch Bildung – Chancengerechtigkeit in der Bildung“ – Bausteine einer sozialen Bildungspolitik. Auch die PISA-Studien haben ins öffentliche Bewusstsein gerufen, dass Bildungschancen besonders in Deutschland in hohem Maße von der sozialen Herkunft der Kinder abhängen. Der Zusammenhang ist nur etwa zur Hälfte durch eine geringere Leistung der Kinder qua Herkunft bedingt, ebenso sehr wird er durch Barrieren im Bildungswesen selbst verursacht. Die Benachteiligung trifft hier aber nicht nur arme Kinder, sondern reicht bis weit in die Mittelschicht. So sind die Chancen, das Gymnasium zu besuchen, für Kinder aus der „oberen Dienstklasse“ bei gleichen kognitiven Kompetenzen um das Dreifache höher als aus Facharbeiterfamilien.
Zum Schluss noch ein Wort zur Finanzierung:
Ich glaube, dass sich unsere Mitbürger darüber im Klaren sind, dass unsere öffentlichen Haushalte unterfinanziert sind.
Es mag ja sein, dass bei den Unternehmenssteuern mit Blick auf den internationalen Standortwettbewerb Senkungen notwendig waren. Man kann aber keinen modernen leistungsfähigen öffentlichen Sektor erhalten – wie ihn unsere Bürger erwarten – und bei allen Steuern und Abgaben den billigen Jacob spielen. Ich sehe spürbare Spielräume im oberen Bereich des Einkommensteuertarifs sowie bei der Erbschafts- und Vermögenssteuer.
Die Kindergrundsicherung und die kostenlose Bereitstellung aller Leistungen für Bildung, Erziehung und Betreuung könnten durch Abschaffung des Ehegattensplittings zugunsten einer Individualbesteuerung fast punktgenau finanziert werden.
Wir Älteren können uns nicht guten Gewissens die Steuern senken und die Renten garantieren, während wir unseren Kindern und Enkeln extreme Schulden und gefährdete Lebensgrundlagen zumuten. Sie außerdem durch Bildung und Erziehung nicht zu befähigen mit den Problemen, die wir ihnen hinterlassen, fertig zu werden, ist unanständig.
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